neue nationalgalerie nach sanierung

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01.06.2022

Perfekt Mies (van der Rohe)

Die Neue Nationalgalerie von Ludwig Mies van der Rohe (1886- 1969) gilt als eine Ikone der Architektur des 20. Jahrhunderts.

Autor: Dr. Jürgen Tietz

Pur und klar thront der 1968 eröffnete Musen-Tempel aus Stahl und Glas auf seinem steinernen Podest über dem Berliner Kulturforum. Doch auch Ikonen kommen in die Jahre.

Dann bedürfen sie einer feinfühligen Hand, damit sie mit der notwendigen Behutsamkeit und einem genauen Blick für die Details wieder auf Vordermann gebracht werden. Experten für solche Reparaturen sind David Chipperfield Architects (DCA). Das haben sie in Berlin bereits beim Neuen Museum auf der Museumsinsel bewiesen.

Nach sechs Jahren Bauzeit lädt die Neue Nationalgalerie seit Herbst 2021 wieder ihre Besucher ein, das neue alte Haus für sich zurückzuerobern. Passend zu diesem späten Hauptwerk der „Klassischen Moderne“ werden im Sockelgeschoss derzeit die vielfältigen Spielarten der Kunst in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts vorgestellt. Unter dem Titel „Die Kunst der Gesellschaft 1900-1945“ sind dort bis zum 2. Juli 2022 rund 250 Hauptwerke aus der Sammlung der Nationalgalerie zu sehen. Darunter Gemälde von Ludwig Kirchner, Otto Dix, Lotte Laserstein und Hannah Höch.

Der Bogen reicht vom Expressionismus über Dada bis zu Bauhaus und Surrealismus. Einen besonderen Akzent bilden die Skulpturen der Klassischen Moderne. Dicht beieinander stehen u. a. Arbeiten von Rudolf Belling, Georg Kolbe, Renée Sintenis und Will Lammert und ermöglichen es so, sich einen Eindruck von den bildhauerischen Positionen der ersten Jahrhunderthälfte zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion zu verschaffen.

Architektur ohne Architekt

Die Idee von David Chipperfield und seinem Team war es, bei der rund 140 Millionen Euro teuren Sanierung „soviel Mies wie möglich“ zu erhalten. Dafür wurden die gesamten originalen Wand- und Bodenverkleidungen des Hauses zunächst akribisch nummeriert, demontiert und ausgelagert, um sie am Ende der aufwändigen Sanierung behutsam repariert wieder einzubauen. Mit wie viel Sachverstand und Liebe zum Detail die Architekten dabei vorgegangen sind, wird bereits bei der Glasfront der Ausstellungshalle deutlich. Wer erinnert sich heute noch daran, dass die mächtigen Glasscheiben vor der Sanierung lange Jahre geteilt waren? Heute besitzt die gläserne Wand mit ihren 3,43 auf 5,50 Meter messenden Scheiben aus Verbundsicherheitsglas nicht nur wieder ihr historisches Aussehen von 1968.

Darüber hinaus wurde sie für die hohen klimatischen und sicherheitstechnischen Anforderungen optimiert, die inzwischen im internationalen Museumsbau gelten. Zugleich erfuhr die aufgearbeitete Stahlfassade eine fast unsichtbare Optimierung, um auch künftig dem Gewicht der Scheiben, aber auch den Wind- und Schneelasten zu trotzen. Ganz neue Ergänzungen durch David Chipperfield Architects gibt es nur wenige. Dazu gehören ein neues Depot unter dem Podium sowie eine Garderobe und ein Buchladen im Sockelgeschoss. Beide sind in Räumen untergebracht, die zuvor nicht öffentlich zugänglich waren. Und obwohl sie nicht „original Mies“ sind, fügen sie sich dank der bemerkenswerten Zurückhaltung des Stararchitekten Chipperfield harmonisch in das Haus ein.

Mit Liebe zum Detail

Es spricht für die vorbildliche Archivrecherche und die große Detailleidenschaft, dass bei der Sanierung sogar Firmen hinzugezogen wurden, die schon bei der Erstausstattung der Neuen Nationalgalerie vor 50 Jahren beteiligt waren! Etwa bei dem grau-flirrenden Teppich der Ausstellungsräume, der die Anmutung des Granits in der Halle und auf dem Podium in ein weiches Material übersetzt. Von der Betonsanierung, dem kompletten Austausch der technischen Ausstattung des Museums bis hin zur Umrüstung der historischen Strahler auf energiesparende LED-Technik in den Ausstellungsräumen reicht das Spektrum der Eingriffe. Ein besonderes Schmankerl ist der zauberhafte Skulpturenhof. Er hat seine historische Struktur und Bepflanzung nach van der Rohes Plänen zurückerhalten. Es ist ein wunderbarer Ort, um beim Besuch der Neuen Nationalgalerie kurz innezuhalten und über die Kunst der Klassischen Moderne nachzusinnen.

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