eiffelturm bei nacht

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01.04.2022

Was darf man von Frankreich erwarten?

Frankreich hat am 1. Januar für das erste Halbjahr 2022 den Vorsitz des Rats der Europäischen Union übernommen.

Autorin: Prof. Dr. Ulrike Guérot

Auch unter widrigen Umständen sollten wir mehr Europa wagen.

Die französische Ratspräsidentschaft ist spektakulär gestartet: Der Eiffelturm war zu Jahresbeginn in eine Lichtprojektion der blauen Europafahne eingehüllt. Emmanuel Macron hat zum Auftakt der EU-Ratspräsidentschaft im Januar 2022 erneut die strategische Autonomie und Souveränität Europas betont. Und das Motto der französischen Ratspräsidentschaft ist vielversprechend: „Relance, Puissance, Appartenance“, Neustart, Macht und Zugehörigkeit für Europa. Im Juni 2022 soll unter französischer Ratspräsidentschaft die „Konferenz zur Zukunft der Europas" zum Abschluss gebracht werden, im Rahmen derer im letzten Jahr rund 300.000 durch Zufallsprinzip ausgewählte europäische Bürgerinnen und Bürger mittels moderierter Bürgerforen ihre Ideen für die Zukunft entwickelt und zu Papier gebracht haben – teilweise mit weitreichenden Forderungen, etwa einer europäische Armee, eine europäische Arbeitslosenversicherung oder eine harmonisierte europäische Besteuerung für Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen.

Selten schien die EU politisch, wirtschaftlich und sozial so auf Treibsand gebaut wie derzeit.

Mehr Autonomie und Souveränität

Es liegt in der Luft, dass die EU nach den zermürbenden Jahren der Pandemie, deren Epizentrum Europa über lange Monate war, einen Aufbruch braucht. Ein zentraler Baustein dafür ist das Rettungspaket European Rescue Package von 750 Milliarden mit dem Titel „Next Generation Europe“, das die EU im Juli 2020 geschnürt hat, um die europäischen Volkswirtschaften durch die Pandemie zu bringen und das den europäischen Haushalt um 0,6 Prozent auf nunmehr insgesamt 1,5 Prozent des europäischen BIP erhöht hat. Ob sich das Rescue Package als Einstieg in eine europäische Fiskalunion erweisen wird, wofür sich Olaf Scholz zumindest 2020 als Finanzminister noch öffentlich stark gemacht hat, und ob Europa daraus neue wirtschaftliche Kraft und Geschlossenheit wird schöpfen können, wird sich jedoch erst noch zeigen müssen. Generell hat die Pandemie die geostrategischen und geoökonomischen Parameter eindeutig in Richtung China und die USA verschoben. Europa gehört politisch wie wirtschaftlich eher zu den Verlierern des pandemischen Geschehens, sein Aufbruch nach der Zäsur lässt auf sich warten, während China schon wieder deutlich wächst und große Teile der USA Corona längst hinter sich gelassen haben. Wenn das europäische Einigungsprojekt – und die europäische Wirtschaft – darunter mittelfristig nicht leiden sollen, wäre es notwendig, Europa beziehungsweise die EU jetzt ein Stück weit in Richtung politische Autonomie und Souveränität zu führen. Genau das hat Emmanuel Macron vor.

Präsidentschaftswahl mit ungewissem Ausgang

Dennoch steht die französische Ratspräsidentschaft unter schwierigen Vorzeichen, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen sind im April Präsidentschaftswahlen in Frankreich und die Wiederwahl Macrons ist möglich, aber keinesfalls gesichert. Schon jetzt ist, klar, dass die Stichwahl nur eine Wahl zwischen mitte-rechts und populistisch beziehungsweise extrem rechts ist: das Parteiensystem in Frankeich ist seit langem äußerst fragilisiert – wie überhaupt das ganze Land –, und es muss wieder von einer sehr geringen Wahlbeteiligung ausgegangen werden. Zum jetzigen Zeitpunkt scheinen sowohl eine Stichwahl gegen Valérie Pécresse, der derzeitigen Präsidentin der Region Ile de France von den Republikanern beziehungsweise Gaullisten, als auch gegen Marine Le Pen und sogar Eric Zemmour möglich. Gegen Pécresse könnte Macron verlieren, weil die Gaullisten im Land eine bessere Parteienbasis haben. Die Macron-Bewegung La République en Marche ist nicht viel mehr als ein hybrider Wahlverein, ohne Verankerung in der französischen Provinz. Kurz: Macron hat keine Basis. In Deutschland wurde über lange Jahre konsequent übersehen, in welcher politischen und sozialen Morosität sich das französische Nachbarland befindet (Stichwort: „Gelbwesten“), sonst hätte man vielleicht nicht so leichtfertig die europäischen Vorschläge ausgeschlagen, die Macron immer wieder unterbreitet hatte.

Der deutsch-französische Motor stottert weiter

Der Ukraine-Konflikt dürfte das deutsch-französische Tandem (das eh schon aufgrund der problematischen Taxonomie-Entscheidung über Atomkraft und Gas als nachhaltige Energiequellen angeschlagen ist) trotz der Bemühungen um ein gemeinsames Auftreten im Rahmen des Normandie-Formates weiter auseinandertreiben, ist doch die Entscheidung über einen Stopp der Nord Stream-Pipeline zentral in diesem Konflikt, und Deutschland hat hier eben dezidiert nationale – ökonomische – Interessen, auf die zu verzichten es sich ziert. Ob Macron hier im Rahmen der französischen EU-Ratspräsidentschaft wird politische Akzente setzen können, muss mehr als bezweifelt werden. Die anderen offiziellen Akteure der EU, zum Beispiel EU-Ratspräsident Charles Michel, der auch für die EU-Außenbeziehungen zuständig ist, kommen in dem Konflikt de facto nicht vor.

Was heißt das für die französische Ratspräsidentschaft

Selten stand die EU mehr vor der Notwendigkeit, ihre politische und strategische Emanzipation in Angriff zu nehmen. Doch selten schien die EU politisch, wirtschaftlich und sozial so auf Treibsand gebaut wie derzeit. Die wirtschaftlichen Kollateralschäden der Pandemie (vor allem für den Mittelstand und die kleinen Gewerbetreibenden) sind noch nicht sichtbar, doch die soziale Krise in Europa – vor allem in Frankreich – ist unübersehbar; viele EU-Staaten werden politisch von nationalistischen und populistischen Bewegungen zerfurcht. Macron hat keinen Zauberstab, um dem viel entgegenzustellen. Für Europa könnte gelten, was einmal das Bonmot von Gorbatschow war: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“

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