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01.04.2022

"Wir fühlen uns zu oft allein gelassen"

Über 150 Jahre Firmengeschichte zeichnet die C. H. Müller GmbH aus.

Autor: Prof. Dr. Jo Groebel

Geschäftsführer Philipp Porst erläutert im Interview die vielfältigen Produktionsbereiche des Textilunternehmens und worauf es dem Familienbetrieb im sächsischen Heinsdorfergrund besonders ankommt.

Prof. Dr. Jo Groebel: Ein Normalbürger assoziiert mit dem Begriff Textil vermutlich Kleidung. Ihr Unternehmen, dem Sie als geschäftsführender Gesellschafter vorstehen, produziert aber Textil in einem erheblich weiteren Sinne des Begriffs.

Philipp Porst: Die Ursprünge der Firma beziehen sich tatsächlich auch auf die Herstellung von Baumwollstoffen für die Fertigung unter anderem von Hemden und den Vorläufern von Socken. Heute sprechen wir aber vor allem von faserverstärktem Material beziehungsweise Kunststoffen für viele Anwendungen bis hin zum medizinischen Bereich. So den Orthesen, den Stützmitteln zum Beispiel zur Entlastung von Gelenken. Ganz wichtig ist der Automobil- und der Flugzeugbau, beispielsweise Sitze mit höchst anspruchsvollen Voraussetzungen wie Belastbarkeit, Feuerfestigkeit, Türverkleidungen und vieles mehr. Auch die Ummantelung von Rohren und Leitungen gehört zum Produktspektrum für modernes Textil dazu. Dabei bemühen wir uns, die Textilen smart zu machen und mit weiteren Funktionen zu versehen.

So modern Ihre Erzeugnisse sind, Textil in der Urform ist so alt wie die Menschheits- und die Kulturgeschichte. Gibt es immer noch eine umfassende, Altes wie Neues einschließende Definition für das Material? Zum Beispiel ein flexibler Stoff, der in irgendeiner Weise im weitesten Sinne Schutzfunktionen erfüllt?

Sicherlich sprechen wir bei Textil über Natur- oder Kunststoffe, die durch Flechten oder ähnliche Prozeduren zum Beispiel zu Materialflächen weiterverarbeitet werden. Traditionell gehörten Weben und Stricken dazu, bei Vliesstoffen wird die Verbindung aber auch durch physikalische oder chemische Verbindungen zwischen den Fasern geschaffen. Mechanik und Chemie, Naturmaterialien und Kunststoffe zählen also insgesamt zur Herstellung flexibler Grundlagen für praktische Anwendungen in fast allen Lebens- und Industriebereichen.

In der zunächst historischen Sicht auf Ihr Metier gerne etwas mehr zu der Verbindung aus Tradition und Innovation, die Ihr Unternehmen und seine Vorläufer auszeichnete. Gegründet in Reichenbach, Sachsen, durch Carl-Heinrich Müller am 9. September 1868, ging es mit Handwebstühlen los.

Ganz richtig, und es ging mit seinen zwei Söhnen weiter. Einer der beiden hatte eine Tochter, die dann Johann Porst heiratete.

Voilà, Ihr Name kennzeichnet also nahezu die gesamte Firmengeschichte.

Genau, wir sprechen von meinem Urgroßvater. All dies ist übrigens in unserer Unternehmenschronik anlässlich des 150-jährigen Bestehens festgehalten. Manches ging leider verloren, unter anderem durch Beschlagnahmung, als nach dem Krieg im Rahmen der Kollektivierung Besitztümer enteignet wurden. Das Wichtigste jedoch ist in unserem Archiv zu finden.

Passend zum Thema, vermutlich ist heute der Regionalbezug immer noch wichtig – nicht zuletzt wegen der Arbeitskräfte.

Fachkräfte finden wir hier im Vogtland genug, auch durch die attraktiven Lebensbedingungen. Aber ebenso, da wir in einem Zentrum der Automobilindustrie tätig sind, einem unserer wichtigsten Geschäftsfelder. In weniger als drei Stunden sind wir in jedem der entsprechenden anderen Ballungsräume, München, Nürnberg, Berlin sowie Metropolen in Mittel- und Osteuropa, abgesehen von der Industrie direkt vor Ort wie zum Beispiel Dresden.

Geopolitisch bedingt, ist auch Ihr Unternehmen im Laufe der Geschichte zwangsläufig durch etliche Krisen gegangen. Aktuell haben wir Covid-19 und die Folgen erlebt.

Henry Ford hat sinngemäß gesagt, dass Erfolg unter anderem darin besteht, sich an bestehende Umstände flexibel anpassen zu können. So kamen wir durch die Weltwirtschaftskrise der 1920er, so überlebten wir den Zweiten Weltkrieg und die Jahrzehnte danach. 2020 war coronabedingt auch wieder schwierig für uns: Abbruch der Lieferketten, wirtschaftliche Unsicherheit. 2021 wurde leider noch schlimmer, nicht zuletzt durch die Krise mit Zulieferungen. Die Medienberichte über eine prosperierende Zeit treffen für uns nicht zu. Wir baden aus, wenn es regelmäßig zu Produktionsabbrüchen kommt. Auch in dieser Situation haben wir aber gelernt, uns anzupassen.

Welche Konsequenzen müssten von der Politik in dieser Situation gezogen werden?

Für mich ist ein zentraler Punkt die Aufforderung an die Politiker, mehr Rückgrat zu haben und sich nicht immer wieder den Großkonzernen mit ihren großen Apparaten und Lobbygruppen zu beugen, die für sich Steuervorteile herausholen können, die den Kleineren und dem Mittelstand versagt bleiben. Wir haben kaum Entlastung erfahren.

Dabei entstehen an die 70 Prozent der Wirtschaftskraft in Deutschland durch mittelständische Unternehmen.

Wir fühlen uns zu oft allein gelassen. Zu klein für die spektakulären Hilfsaktionen wie für die Lufthansa. Zu groß, um staatliche Überbrückungen wie Kleinunternehmer zu erhalten. Bestenfalls ab und zu mal ein Tropfen auf den heißen Stein. Gerade bei Corona wurde die Verantwortung unter anderem bei 2G und 3G auf die mittelständischen Arbeitgeber abgeschoben. Zudem gab es ein unglaubliches Hickhack, heute diese Vorgaben, morgen jene, und regelmäßig ohne gute öffentliche Infrastruktur. All dies hat uns pro Monat mal eben jeweils etliche tausend Euro zusätzlich gekostet. Wir müssen zum Teil kaum nachvollziehbare Entscheidungen, die an anderer Stelle getroffen werden, regelmäßig ausbaden.

Immerhin haben sich der BVMW und dessen Bundesgeschäftsführer Markus Jerger dazu eindeutig und kritisch in den Medien und der breiten Öffentlichkeit positioniert. Wo sehen Sie insgesamt jetzige und künftige Schwerpunkte des Verbands?

Die entsprechende Lobbyarbeit für den Mittelstand ist wichtiger denn je. Nicht zuletzt durch die neuen politischen, die wirtschaftlichen und auch die gesellschaftspolitischen Veränderungen, die wir alle gerade erleben. Auch unbequeme Wahrheiten und dazu passende Forderungen für eine erfolgreiche mittelständische Wirtschaft müssen prominent geäußert werden. Dies hat der BVMW immer als eine zentrale Aufgabe gesehen. Der Dialog mit der Politik auf höchster Ebene gehört dazu.

Eine Kernherausforderung für viele Mittelständler ist die Nachfolgefrage.

Wir haben den Wechsel 2019 von der Vorgängergeneration zu meiner durch meine Übernahme des Vorsitzes in der Unternehmensleitung vollzogen, ich bin jetzt 42, war selbstverständlich auch schon vorher im Unternehmen tätig. Meine Söhne sind noch recht jung, ich setze aber auf Kontinuität.

An Enthusiasmus für Ihre Produkte dürfte es jedenfalls nicht mangeln. Die Reichweite ist riesig, von der Medizintechnik bis hin zur schon genannten Automobilausstattung.

Nicht zu vergessen gegen Covid-19 hochwirksame Filter, die wir kurzfristig 2020 entwickelt haben. Sie können in Fahrzeugen unterschiedlichster Art verbaut werden. Im Bereich der Medizin produzieren wir zum Beispiel beheizbare Matratzen für Inkubatoren, die selbstverständlich höchsten Sicherheits-, Hygiene- und Komfortstandards genügen müssen. Dann sind wir Hersteller klassischer Materialien für Orthesen, man kennt das von den Stütztextilien nach Beinverletzungen oder anderen Handicaps. Auch im Operationssaal kommen wir zum Einsatz, nämlich da, wo sterile, zugleich flexible Materialien erforderlich sind, Schutzüberzüge von Hauben, die dann auch leicht austauschbar sein müssen.

Wie verteilen sich die Umsätze in etwa auf die von Ihnen ausgestatteten Branchen?

Wir sind ziemlich automobillastig, dort rund 80 Prozent, andere Bereiche sind die schon genannte Medizin, aber auch der Flugzeugbereich, Leichtbau und Dämmstoffe sind ein wichtiger Produktfaktor.

Sie sprachen bereits von den faserverstärkenden Kunststoffen.

Und die Verbindung mit Naturfasern. Carbon wird immer mehr eingesetzt, in Koffern, im Fahrzeugbau. Widerstandsfähig, fest und zugleich ganz leicht. Allerdings nicht einfach zu recyceln.

Bis hin zum Karosseriebau.

Ganz recht, wenn auch noch recht aufwendig in der Herstellung.

In dem Zusammenhang würde ich gerne noch einige Begriffe aus Ihrer Produktion klären. Es gibt die Laminierung, das Kaschieren, die Verkleidung, die Mischgewebe. Können Sie das kurz erläutern?

Beim Kaschieren werden mindestens zwei Materialien miteinander verbunden, das Resultat bietet dann bessere Eigenschaften als jeder einzelne Stoff. Beschichtung ist das Anbringen einer Schicht je nach Kundenvorgabe. Polymere spielen hier eine wichtige Rolle, wiederverwertbar später zum Beispiel in Plastikflaschen. Generell geht es um die Erhöhung von Widerstandsfähigkeit und Stabilität überall da, wo Textilien oder die von ihnen umgebenen elastischen Gegenstände starken Belastungen ausgesetzt sind. Zudem ist Nachhaltigkeit immer wichtiger. Dabei spielen smarte Textilien eine immer größere Rolle.

Ist das die Bank im öffentlichen Nahverkehr, die nach Beschmierung zurückschlägt?

Nein, intelligente Textilien zeichnen sich dadurch aus, dass sie anpassungsfähig für unterschiedlichste Anwendungen sind. Sensorik bis hin zum Erkennen einer Krankenhausmatratze, ob ein Patient durchgelegen ist, gehört zu den Beispielen. Weitere stammen wieder aus der Automobilindustrie.

Aber auch ein solches Urmaterial wie Leder gehört für Sie noch zu den geschätzten und verwendeten Materialien.

Es ist für mich ein ganz toller Werkstoff. Tiere werden übrigens nicht dafür getötet. Verwendet wird nahezu ausschließlich Leder, das nach der Schlachtung für Lebensmittel übrig bleibt. Und es gehört als Schutz zur Menschheitsgeschichte so dazu wie andere Grundmittel des Lebens. Durch Granulierung schaffen wir auch hier Produkte im Sinne von Lederfasermaterial, die ökonomisch, widerstandsfähig und haptisch angenehm sind. Es wirkt durchaus luxuriös, ist zugleich nachhaltig.

Der Autofan wird sich freuen. Und selbst Yachten statten Sie aus.

Richtig, auch wenn das keine riesigen Volumina sind.

Selbst Kunstleder ist heute nicht mehr verpönt.

Es hat Vorteile, wächst auf der Rolle, wird aber auch marketingtechnisch gut platziert. Tesla setzt darauf. Leider trifft bei der PVC-Produktion von Kunstleder die Herstellungsnachhaltigkeit definitiv nicht zu. Selbstverständlich gibt es hier auch exzellente und nachhaltige Neuentwicklungen.

Apropos Neuentwicklungen. Wieviel Prozent Ihrer Mitarbeitenden sind damit und mit der Forschung befasst?

Rund fünf Prozent arbeiten in diesem Bereich.

Und die internationale Verteilung?

Rund 330 Mitarbeitende in Deutschland, Umsatz hier etwa 65 Millionen. In den USA 60 Mitarbeitende bei 22 Millionen Dollar Umsatz.

Ihre Werte haben Sie dabei schon genannt: Nachhaltigkeit, die Verbindung aus Tradition und Fortschritt.

… und dass wir integrativ arbeiten. Seit Generationen und selbstverständlich auch heute sind das Wichtigste, was wir haben, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ohne sie funktioniert nichts. Alle sind Teil des Teams, das machte und macht unser Unternehmen vor allem aus. Dabei denken wir immer langfristig. Herkunft, Geschlecht, Alter spielen keine Rolle. Engagement und Loyalität sind entscheidend.

Zum Team gehören Sie selbst. Daher auch die Frage nach Ihrer Person.

Ich bin früh ins Unternehmen hineingewachsen. Schon mit zwölf an der Werkbank, um mir etwas Geld hinzuzuverdienen. Dies hat mir geholfen, genauso wie das spätere Studium der Textil- und Werkstoffkunde in Erlangen und Zwickau. Nebenbei habe ich noch eine kleine IT-Firma.

In der Kombination sicherlich gut anzuwenden, und Ihr Aufenthalt in den USA trug auch positiv zu Ihren Berufserfahrungen bei.

In den USA bin ich mindestens ein bis zwei Wochen im Monat, unseren dortigen Standort in South Carolina habe ich gegründet und aufgebaut. Mein Vater legte insgesamt Wert darauf, alle Geschäftsbereiche von der Pike auf kennenzulernen.

Bleibt Zeit für freie Stunden?

Die Familie, dann Sport, und die Leidenschaft für Autos macht mich durchaus zum Petrolhead.

Ich danke für das erfrischende Gespräch.

Das Gespräch führte der Medienexperte Prof. Dr. Jo Groebel

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