Wie mittelständische Industrieunternehmen systematisch Zugang zur Wehrtechnik Deutschland finden
Chancen und Risiken für mittelständische Zulieferer
Die deutsche Rüstungsindustrie befindet sich seit der angekündigten „Zeitenwende“ 2022 im Umbruch. Sondervermögen wurden beschlossen, um die Bundeswehr zu modernisieren[1][2]. Dies hat zu steigenden Verteidigungsausgaben geführt und Unternehmen der Branche verzeichnen erstmals seit Langem wieder starke Auftragsimpulse. In dieser Situation sondieren viele mittelständische Unternehmen (KMU) neue Geschäftsfelder als Zulieferer für Militärprojekte – von klassischen Maschinenbauern bis hin zu Automobilzulieferern[3][4]. Doch trotz großer Chancen erfordert der Einstieg ins Rüstungsgeschäft genaue Kenntnis der Marktstruktur, formale Voraussetzungen und potenzieller Risiken. Dieser Bericht bietet einen strukturierten Überblick mit Fokus auf Chancen und Risiken für mittelständische Zulieferer.
Die deutsche Rüstungsindustrie ist traditionell stark konzentriert: Wenige große Konzerne dominieren Angebot und Umsatz, während die Nachfrager im Wesentlichen staatliche Stellen sind[6]. Zu den wichtigsten Akteuren zählen etwa die Airbus Defence & Space (Militärflugzeuge, Satelliten), Rheinmetall (Fahrzeuge, Waffen, Munition), Krauss-Maffei Wegmann (KMW) – als Teil von KNDS – (Panzer und Artillerie), Thyssenkrupp Marine Systems (U-Boote, Marineschiffe), Diehl Defence (Lenkflugkörper, Munition), Hensoldt (Sensorik, Elektronik) sowie Spezialisten wie Heckler & Koch (Handfeuerwaffen)[7][8]. Im Jahr 2020 wurden Rüstungsgüter im Wert von rund 11,3 Mrd. € in Deutschland produziert; davon entfielen knapp 63 % auf Luft- und Raumfahrt (z.B. Eurofighter-Jets, A400M-Transporter) und ~21 % auf Waffen und Munition[7]. Landgebundene Kampffahrzeuge machten 2020 erst ca. 6 % des Umsatzes aus[8], doch dieser Anteil dürfte durch neue Heeres-Aufträge mittlerweile steigen. Neben diesen „Primes“ existiert eine breite Basis von mittelständischen Zulieferbetrieben, die viele spezialisierte Komponenten und Dienstleistungen liefern.
Marktvolumen und öffentliche Aufträge: Deutschlands Verteidigungsetat wurde infolge der Zeitenwende deutlich erhöht – zusätzlich zum regulären Budget soll das 100 Mrd. € Sondervermögen bis 2027 investiert werden[9]. Damit wird jahrelanger Investitionsstau aufgelöst. 2024 sind allein ~19,8 Mrd. € an Rüstungsinvestitionen (Sondervermögen + Etat) vorgesehen[10]. Große Beschaffungsprojekte wie Kampfflugzeuge (z.B. F-35), Transporthubschrauber (CH-47), modernes Gerät für das Heer und Munition werden vorangetrieben. Anfang 2023 haperte es zwar noch an der Umsetzung – ein Jahr nach Scholz’ Zeitenwende-Rede waren kaum Aufträge aus dem Sondervermögen bei der Industrie angekommen, vor allem aufgrund langwieriger Bürokratie[11][12]. Doch bis Frühjahr 2024 war der Großteil der Mittel gebunden oder in Vergabe[13]. Trends seit der Zeitenwende sind u.a. ein deutlicher Nachholbedarf bei Material (z.B. Munition und Ersatz für an die Ukraine abgegebene Systeme[14][15]) sowie Bestrebungen, Beschaffung zu beschleunigen. Außerdem wird angestrebt, das NATO-Ziel von 2 % des BIP für Verteidigungsausgaben nachhaltig einzuhalten[16]. Im internationalen Kontext steigt die Verteidigungsnachfrage ebenfalls: Alle NATO-Staaten stocken ihre Budgets auf und europäische Gemeinschaftsprojekte (z.B. das Future Combat Air System oder ein neuer Kampfpanzer) werden forciert – was perspektivisch auch deutschen Firmen Aufträge bringen kann. Global lag der Rüstungsmarkt 2022 bei rund 2,7 Billionen € Ausgaben[3]; Deutschland zählt seit Jahren zu den größten Exporteuren von Rüstungsgütern (2022 Genehmigungen über 8,36 Mrd. €[17]). Dieses Gesamtbild zeigt: Die Branche erlebt einen historischen Aufschwung, steht aber auch vor der Bewährungsprobe, ob die Produktionskapazitäten den politischen Erwartungen gerecht werden können[18].
Rolle mittelständischer Unternehmen: Trotz der Dominanz einiger Großunternehmen ist die Zulieferkette stark mittelständisch geprägt. Nahezu 70 % aller Bundeswehr-Aufträge (nach Anzahl) gehen an mittelständische Firmen[19]. Von den über 230 Mitgliedsunternehmen des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) zählen rund 80 % zum wehrtechnischen Mittelstand (jeweils ≤300 Mitarbeiter im S&V-Bereich)[20][21]. Insgesamt sind direkt etwa 100.000 Beschäftigte in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie tätig (inkl. vieler Fachkräfte bei KMUs)[22] – Tendenz steigend. Mittelständler fungieren oft als Spezialisten in Nischen und tragen wesentlich zur Innovationskraft bei. Historisch war die Branche in Deutschland zwar politisch kontrovers und wenig sichtbar[23], doch seit dem Ukraine-Krieg genießt die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit breite Rückendeckung. Für KMU bedeutet dies, dass ihre Beiträge zur Rüstung nun sowohl wirtschaftlich gefragt als auch gesellschaftlich anerkannter sind als noch vor einigen Jahren.
Die Wertschöpfungskette in Rüstungsprojekten ist vielfältig – von Hightech-Komponenten bis hin zu Dienstleistungen. Gerade in folgenden Bereichen bieten sich Zulieferchancen für mittelständische Betriebe:
Zur Veranschaulichung zeigt Tabelle 1 typische Zuliefersegmente und Beispiele:
Tabelle 1: Typische Bereiche, in denen mittelständische Zulieferer in der Rüstungsindustrie gefragt sind, mit Beispielen.
In all diesen Feldern kommt mittelständischen Firmen oft ihre Flexibilität und Spezialisierung zugute. Sie können in kleinen Serien produzieren, Technologien aus zivilen Anwendungen anpassen und so Lücken füllen, die große Konzerne allein nicht abdecken können[39]. Wichtig ist jedoch, dass interessierte Unternehmen sich frühzeitig einen Überblick verschaffen, welche konkreten Anforderungen in „ihrer“ Nische der Rüstungsbranche gestellt werden.
Der Markteintritt als Rüstungs-Zulieferer ist mit hohen formalen Hürden verbunden. Behörden und Großauftragnehmer stellen strenge Anforderungen sicher, um Qualität, Sicherheit und Rechtskonformität zu gewährleisten. Mittelständler sollten insbesondere folgende Punkte beachten:
Trotz aller Auflagen bietet die Rüstungsindustrie derzeit attraktive Chancen für den Mittelstand. Einige der wichtigsten wirtschaftlichen Vorteile:
Stärkung regionaler Wirtschaftsstrukturen: In einigen Regionen (etwa Baden-Württemberg oder Bayern) gilt die Rüstungsindustrie als zukunftsträchtiges Cluster, das neue Impulse setzt. Landesregierungen fördern Initiativen wie einen „Campus for Defence and Protection“ (z.B. in Ingolstadt) zur Vernetzung von Wirtschaft und Forschung[67]. Mittelständische Firmen können sich dort ansiedeln oder kooperieren, um an Wehrtechnik-Innovationen mitzuwirken. Dies schafft lokale Wertschöpfung und hochqualifizierte Arbeitsplätze. Der Imagewandel trägt ebenfalls zur Chance bei: Firmen wie Bosch oder Trumpf, die Rüstungsgeschäfte jahrelang aus Prinzip ausgeschlossen hatten, sind nun bereit, sich zum Wohle der „wehrhaften Demokratie“ einzubringen[68][69]. Diese Öffnung der Industrie für neue Player ist eine historische Gelegenheit für den Mittelstand, um Teil einer strategisch wichtigen Branche zu werden.
Trotz aller positiven Aussichten müssen mittelständische Unternehmer die Risiken und besonderen Herausforderungen des Rüstungsgeschäfts sorgfältig abwägen:
Schwankungen und langfristige Verpflichtungen: Abseits politischer Einflüsse besteht in der Rüstungsindustrie die Herausforderung, dass Projektzyklen sehr lang sind. Ein Auftrag heute kann eine Bindung über Jahrzehnte bedeuten (Wartungsverträge, Ersatzteillieferungen). Dies schränkt unternehmerische Flexibilität ein. Zudem sind die Stückzahlen meist gering (Kleinserien statt Massenfertigung)[62], was die üblichen Skaleneffekte reduziert. Wer aus einer Branche mit Großserien kommt (z.B. Automobil), muss sich auf deutlich kleinere Losgrößen einstellen – damit einher gehen aber höhere Stückkosten und Abhängigkeit davon, dass wirklich jedes versprochene Stück auch abgerufen wird. Wirtschaftlich kann das riskant sein, wenn beispielsweise eine zweite Tranche nicht mehr beauftragt wird oder ein Modell früher als geplant durch neue Technik ersetzt wird. Schließlich besteht auch ein Haftungs- und Gewährleistungsrisiko: Rüstungsgüter unterliegen strengen Abnahmen; ein Mangel kann sicherheitskritisch sein und entsprechend hohe Gewährleistungskosten nach sich ziehen. Die Verträge wälzen viel Verantwortung auf Zulieferer ab (Stichwort Garantie über lange Zeit). Mittelständler müssen daher finanziell robust genug sein, um etwaige Rückstellungen für solche Fälle bilden zu können – oder sich versichern, soweit möglich.
Die deutsche Rüstungsindustrie bietet mittelständischen Zulieferern in der aktuellen sicherheitspolitischen Lage so viele Chancen wie selten zuvor. Steigende Budgets, technologische Aufbruchstimmung und der politische Wille zur Stärkung der Wehrhaftigkeit eröffnen neuen Lieferanten attraktive Perspektiven[73]. Zugleich ist das Rüstungsgeschäft aber kein „Selbstläufer“. Es verlangt Geduld, Spezial-Know-how und Bereitschaft, sich auf umfangreiche Regularien einzulassen. Geschäftsführer mittelständischer Firmen sollten diese Chancen und Risiken sorgfältig gegeneinander abwägen. Mit einer klaren Strategie – etwa Fokussierung auf eine Nische, Partnerschaften mit etablierten Akteuren und frühe Zertifizierung – können KMU jedoch vom Aufschwung der Branche profitieren, ihre eigene Resilienz stärken und zugleich einen Beitrag zur Sicherung der Landes- und Bündnisverteidigung leisten. Die Zeitenwende markiert somit nicht nur einen politikgeschichtlichen Umbruch, sondern potenziell auch einen Neubeginn für viele Mittelständler in einem anspruchsvollen, aber lohnenden Marktsegment.
Quellen: Die Angaben in diesem Bericht wurden aktuellen Analysen und Branchendaten entnommen, darunter Veröffentlichungen der IHK[7][17], Aussagen des BDSV[19], Presseberichte (z.B. Spiegel, Markt und Mittelstand)[22][46] sowie Beispiele aus der Unternehmenspraxis[38][44]. Sie repräsentieren den Stand der Entwicklung bis Herbst 2025.
[1] [6] [7] [8] [9] [16] [17] [23] [60] [61] ihk.de
[2] [11] [12] [14] [15] [37] Bald ein Jahr nach der Scholz-Rede ist die Bundeswehr ärmer dran als zuvor
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[4] [24] [25] [26] [28] [31] [34] [35] [38] [44] [52] [57] Südwesten rüstet auf: Neue Chancen für Unternehmen | Staatsanzeiger BW
[5] [22] [53] [54] Rüstungsindustrie in Deutschland: Zahl der Beschäftigten deutlich gestiegen - DER SPIEGEL
[19] [20] [21] Mittelstand - BDSV e. V.
https://www.bdsv.eu/themen/mittelstand.html
[27] [41] [42] Zugang zu Wehrtechnikaufträgen nur mit Zertifizierung - Metallhandwerk
https://www.metallhandwerk.de/zugang-zu-wehrtechnikauftraegen-nur-mit-zertifizierung/
[32] Vergabe bei der Bundeswehr
https://www.bundeswehr.de/de/organisation/ausruestung-baainbw/vergabe
[33] Beschaffungen der Bundeswehr - IHK für Bremen und Bremerhaven
[40] [43] [45] [47] [48] [49] [55] [56] Als Zulieferer in die Verteidigungsindustrie | reuschlaw News
https://www.reuschlaw.de/news/als-zulieferer-in-die-verteidigungsindustrie/
[64] Rüstungsexportkontrollatlas | 2023 - Wissenschaft & Frieden
https://wissenschaft-und-frieden.de/dossier/ruestungsexportkontrollatlas-2023/
[73] Zeitenwende: Bedeutung für den Mittelstand