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01.12.2022

Sozialreformen - Großer Wurf oder Treiber des Arbeitskräftemangels?

Mindestlohn, Bürgergeld, Aktienrente – die Bundesregierung hat auf arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Ebene umfassende Reformen angestoßen.

Was bedeuten die Neuregelungen für den Mittelstand, und wo gibt es Verbesserungsbedarf?

Der deutsche Arbeitsmarkt steht vor enormen Herausforderungen. Mit dem Renteneintritt der Babyboomer-Generation wird dem System eine große Zahl an Erwerbspersonen entzogen. Gehen in den kommenden 15 Jahren die geburtenstarken Jahrgänge nach und nach in Rente, werden nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes bis 2036 12,9 Millionen Erwerbspersonen aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Doch das Problem ist keines, das erst in den kommenden Jahren spürbar sein wird. Schon heute klagen viele Unternehmen, dass sie kein geeignetes Fachpersonal mehr finden. Im kürzlich erschienenen Zukunftspanel Mittelstand des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) in Bonn gaben mehr als ein Drittel der Unternehmen an, die fehlende Verfügbarkeit an Fachkräften sei für ihr Unternehmen die größte Herausforderung – noch vor den Folgen der Energiepreiskrise und steigender Inflation. Soll sich diese Lage nicht zu einem elementaren Standortnachteil für den deutschen Mittelstand entwickeln, werden umfassende Reformen notwendig sein, um bestehendes Arbeitskräftepotenzial zu heben und den europäischen Arbeitsmarkt attraktiv für ausländische Fachkräfte zu gestalten. Die Bundesregierung hat den Reformbedarf erkannt und zahlreiche Initiativen auf den Weg gebracht. Viele davon gehen aber leider an der Realität mittelständischer Betriebe vorbei – es besteht dringender Anpassungsbedarf!

Mindestlohn erfährt rekordartige Anhebung

Im Februar hatte die Bundesregierung die Anpassung des Mindestlohns beschlossen, zum 1. Oktober 2022 ist er dann von 9,60 Euro auf 12 Euro die Stunde gestiegen. Der Anstieg sorge für eine gerechte Bezahlung und stabilisiere die sozialen Sicherungssysteme, so die Bundesregierung. Für mittelständische Unternehmen bringt die Reform jedoch eine enorme zusätzliche Kostenbelastung mit sich, und das in einer Zeit, in der die Unternehmen ohnehin mit steigenden Kosten und sinkender Liquidität zu kämpfen haben. Aus der Perspektive des Mittelstandes verschärft die Erhöhung des Mindestlohns somit den Druck auf die Unternehmen beträchtlich. Es ist zu befürchten, dass so die bereits in die Höhe geschossene Inflation weiter angeheizt wird.

Bürgergeld kommt vorerst doch nicht

Neben der Erhöhung des Mindestlohns ist auch die Reform des Hartz IV-Systems eines der zentralen Projekte der Ampel-Regierung. Mit der Einführung des Bürgergelds zum 1. Januar 2023 plant sie eine der größten Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen der vergangenen Jahre. Ob dadurch tatsächlich ein wirksamer Anreiz gesetzt wird, aus der Arbeitslosigkeit heraus eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, muss bezweifelt werden. In vielen kleinen und mittleren Unternehmen, die schon heute unter dem Arbeitskräftemangel leiden, gibt es die berechtigte Befürchtung, dass mit dem höheren Bürgergeld und gleichzeitig weniger Sanktionsmöglichkeiten der Anreiz verloren geht, eine Arbeit überhaupt noch aufzunehmen. Mit der weitgehenden Aufhebung des Prinzips des Förderns und Forderns wird den Betroffenen letztendlich ein Bärendienst erwiesen. Wirksamer wäre es aus Sicht des Mittelstandes, durch die Aufstockung des Personals in der Bundesagentur für Arbeit diejenigen wirksamer zu unterstützen, die wieder eine Berufstätigkeit aufnehmen oder einen Schulabschluss nachholen wollen. Lobend zu erwähnen ist deshalb auch, dass mit der Bürgergeld-Reform die Einführung des Vorrangs der Qualifizierung und Weiterbildung von Arbeitssuchenden gegenüber der reinen Vermittlung eingeräumt werden soll. Dies kann ein wichtiger Hebel sein, um Personen langfristig für den Arbeitsmarkt fit zu machen.

Insgesamt wird das Bürgergeld in der vom Bundestag beschlossenen Form aus Sicht des Mittelstands aber kaum erkennbare positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt entfalten können. Es ist deshalb richtig, dass der Bundesrat dem Gesetz in der jetzigen Form nicht zugestimmt und Anpassungen eingefordert hat. Dazu gehört auch eine umfassende Debatte über eine Novellierung des Arbeitszeitgesetzes, um flexible Arbeitszeitmodelle zu ermöglichen – auch für tarifungebundene Unternehmen.

Aktienrente – der große Wurf für ein stabiles Rentensystem?

Schon ab 2025 drohen dem Rentensystem durch den einsetzenden Renteneintritt der Baby-Boomer-Generation schockartige Finanzierungsprobleme. Bis 2040 sind es dann rechnerisch weniger als zwei Arbeitnehmer, die einen Rentner finanzieren. Auch mit der Aktienrente als zusätzlichem Standbein der Altersvorsorge, die wir vom Grundsatz her befürworten, werden die strukturellen Defizite also nicht gänzlich ausgeglichen werden können. Will die Bundesregierung einen Kollaps der gesetzlichen Rentenversicherung verhindern, wird sie um eine grundlegende Reform nicht umhinkommen – damit das deutsche Rentensystem auch zukünftig leistungsfähig und finanzierbar bleibt. Der BVMW hat bereits konkrete Vorschläge vorgelegt, um zu einer Stabilisierung des Rentensystems beizutragen. Dazu gehört neben der Anpassung des Renteneintrittsalters auch die Schaffung von Anreizen für Verdienstmöglichkeiten im Alter, um auf die langjährigen Erfahrungen und das enorme Wissen älterer Beschäftigter zugreifen zu können.

Gut zu wissen

  • Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) schätzt, dass das Erwerbspersonenpotenzial in der Bundesrepublik zwischen 2020 und 2035 um mehr als 15 Prozent zurückgehen wird. Ein Drittel der Erwerbstätigen in Deutschland wird in den nächsten 14 Jahren den Arbeitsmarkt verlassen.
  • Der Arbeitskräfteknappheitsindex des IAB, der Schwierigkeiten bei Stellenbesetzungen widerspiegelt, erreicht in den letzten Monaten beständig einen neuen Höchststand. Das deutet darauf hin, dass es für die Arbeitgeber immer schwieriger wird, passende Arbeitskräfte zu finden, was auch das Beschäftigungswachstum hemmt.
  • Die Unternehmensberatung BCG beziffert die Kosten des Fachkräftemangels auf 86 Milliarden Euro pro Jahr. Dieser Betrag geht Deutschland derzeit an Wirtschaftsleistung verloren, weil die bestehende Nachfrage nach Produkten oder Dienstleistungen wegen fehlender Mitarbeiter nicht bedient werden kann.

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